Bei Impulsen zu Suizidgedanken - IMMER ansprechen
Der Thread ist nun schon 2 Wochen alt, aber vielleicht hilft er Dir und später auch jemand anderem noch mal. Könnte allerdings etwas länger werden...
Die erste Frage, die ich mir gestellt habe, ist, was ist Deine Sorge, was passieren könnte, wenn Du diese Frage stellst? Aus meiner Praxis (ich habe über die letzten Jahre etwa 70 Coaches betreut) habe ich gelernt, dass viele Angst haben, diese Frage zu stellen, weil sie die Sorge hegen, sie könnten damit eine Idee beim Klienten triggern. Es ist jedoch nachgewiesen so, dass diese Frage keinen Menschen, der nicht eh schon darüber nachgedacht hat, dazu bewegen wird, Selbstmord zu begehen. Andersherum wird jemandem, der diese Gedanken bereits hatte und angesprochen wird, die Tür geöffnet, um die Hemmschwelle zu überschreiten, darüber zu sprechen.
Ich gebe meinen Coaches daher die folgende Grundregel an die Hand: Wenn Dir Gedanken über mögliche Suizidalität eines Klienten in den Kopf kommen oder Dein Bauch rumort, dann sprich es IMMER an. Wenn Du selbst Hemmungen hast, dann beschäftige Dich damit möglichst bald, damit Du diesem Thema mit der nötigen Offenheit in so einer Situation begegnen kannst. Denn die wird früher oder später mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann eintreten.
Dein erster Schritt ist, in klaren Botschaften rüber zu bringen, dass Du jetzt da bist und Zeit hast zuzuhören. (wenn diese limitiert ist, dann meist besser auch das direkt ansprechen, aber wenn man in einer Coaching Session ist, dann sind diese Dinge ja grundsätzlich eh klar, aber es ist gut, sie in dem Moment noch mal zu verbalisieren.)
Dich in die Klientin/den Klienten hineinfühlen – wie würde es mir gehen, wenn ich vollkommen verzweifelt wäre und keinen Ausweg erkennen könnte? Vorsicht! Bei allem Einfühlen nicht die Seiten wechseln und Befürworter werden!
Der Klientin/dem Klienten zeigen, dass Du keine Angst vor ihren Gedanken und Gefühlen hast und bereit bist, sie/ihn in ihrer/seiner aktuellen Situation vorbehaltlos zu akzeptieren, ohne belehrend, als Moralapostel oder als Ankläger aufzutreten
Die Klientin/den Klienten nicht unterbrechen oder versuchen, ihre/seine Gedanken zu kanalisieren – nur spiegeln, was Du gehört und in Deinen und/oder ihrem/seinem Körper wahrgenommen hast.
1.Nach den Suizidgedanken fragen:
• Was haben Sie geplant?
• Wie konkret haben Sie das vor?
Was für Vorbereitungen haben Sie schon getroffen (z.B. Abschiedsbrief, Testament, Tabletten besorgt,...)
Haben Sie es schon mal versucht? Wann?
Wie wird sich das auf Ihr Umfeld auswirken (Familie, Freunde, Kollegen)? andere Perspektiven zeigen und von der eigenen Perspektive ein Stück weit distanzieren
Je konkreter und entschiedener die Antworten auf diese Fragen sind, je höher ist die Gefahr einzuschätzen!
(Nach Pöldinger gibt es 3 Phasen der Suizidgefahr: 1. Das Erwägungsstadium, 2. Das Ambivalenzstadium, 3. Das Entschlussstadium. In der ersten Phase sind Gedanken da, aber die Distanzierungs- und Steuerungsfähigkeit des Klienten ist noch intakt. Bei der zweiten Phase ist diese Fähigkeit bereits eingeschränkt und die Suizidgedanken haben sich in Impulse verwandelt. Hier passieren in der Regel die meisten (oft versteckten) Hilferufe. In der dritten Phase, die oft auch die Ruhe vor dem Sturm genannt wird, erlebt die Außenwelt den Klienten oft wieder fröhlich oder abgeklärt. Hier hat er resigniert und ist in der Klarheit zur Umsetzung des Plans und spricht oft nicht mehr darüber.)
2. Situation beurteilen vereinfacht durch Skala (Nur Ca.-Angaben und Richtwerte!)
Bei 1-4: Empfehlung an die Klientin/den Klienten, den örtlichen Sozialdienst oder einen Therapeuten aufzusuchen. (Fortführtung der eigenen inhaltlichen Unterstützung nur nach Rücksprache mit dem Therapeuten, aber Angebot da zu sein bis jemand gefunden ist)
Bei 4-6: Der Klientin/dem Klienten die Wahl geben, sich selbst einzuweisen, sobald sie zu Hause ist und hinterher Bescheid zu geben (hier leben wir in der Grauzone! Vorsicht, hier muss jeder für sich entscheiden. Das ist nur meine persönliche Herangehensweise.)
Ab 7: Vor Ort zwei Wahlmöglichkeiten geben – entweder Sie weisen sich selbst jetzt ein oder ich tue es (der Prozess hierzu ist in jedem Bundesland bzw. sogar in jeder Gemeinde etwas anders. Bitte erkundige Dich, wie bei Dir der Prozess ist und habe die entsprechenden Telefonnummern in einer Schublade bereit)
Bei 1-6 Vertrag schließen. Nimm der Klienting/dem Klienten das Versprechen ab, sich bis zum nächsten Kontakt mit Dir oder dem Therapeuten nichts anzutun. Klingt banal, aber ist nachweislich schon oft der entscheidende Anker gewesen.
3. Abschluss für den Moment finden
• Wenn die Klientin beginnt sich für Alternativen zu öffnen (UND NUR DANN!), versuche ich ihre Gedanken in Richtung hilfreicher Lösungen zu lenken und ihr zu zeigen, dass das Problem temporär, der Tod dagegen endgültig ist (Vorsicht, das kann ganz schnell nach hinten los gehen, deshalb wirklich nur dann, wenn diese ersten Einsichten von Alternativen der Klientin selbst kommen!)
• Der Klientin klar machen: Das sind die Konsequenzen für mich, wenn Sie jetzt suizidieren. Lassen Sie uns eine Vereinbarung treffen. (Ziel: Kein Suizid zwischen jetzt und dem nächsten Gespräch mit einem Profi.)
• Ich biete Unterstützung bei der Suche nach geeigneter Hilfe an – Sozialdiensttelefonnummer, Therapeutenregister der Stadt, Krisendienst (0180- 655 3000) Kliniknummer etc.
(- Wenn möglich und passend helfe ich der Klientin sofort den ersten Druck loszuwerden, indem ich ihr helfe Grundbedürfnisse zu stillen wie Essen, Trinken oder Schlafen)
So, das war jetzt sehr viel Input. Und wer bis hierher gelesen hat, Hut ab! Wer sich jetzt gerade denkt "das kenn ich doch schon", der kennt mich wahrscheinlich aus dem beruflichen Kontext. Das sind Teile aus einem meiner Vorträge zum Umgang mit Suizidalität für Coaches.